Dreck, Zeit, Moral: Beim Betrachten der Wand

So natürlich ist der Mensch. Und diese Natur mag er nicht. Er wäre so gern moralisch.

Meine Augen sind immer offen für guten Dreck. Ich kam aus der U-bahn nach oben. Normalerweise steige ich auf der anderen Seite hoch, lange bin ich nicht mehr hier entlang gekommen. Hier hatte immer ein Bäckerladen seinen Platz.

Jetzt fehlt von ihm jede Spur. Stattdessen ist da ein Stück alter Boden. Man sieht deutlich, dass er alt und anders ist. Er grenzt sich ab von dem steinernen Bodenbelag am oberen Ende der Rolltreppe. Ich erinnere mich an den Bäckerladen. Wo der Bäckerladen war, ist jetzt ein Stück alter Linoleumboden. Haben sie darauf gestanden und Tag für Tag Kaffee und Kornspitz verkauft? Das konnte ich damals nicht sehen.

Auch nicht die Wand, die der Bäckerladen über Jahre verdeckte. Mir fehlen eigentlich die Worte dafür, aber die Anziehung ist sofort da. Ich ziehe die Kamera heraus und betrete den sonderbaren Raum, der sonst immer abgeschlossen war. Da war eine Verkaufstheke im Weg, die man sonst nicht überwindet. Da war eine Wand, hinter die Keiner sehen konnte. Die Wand hat ein lange verborgenes Geheimnis preisgegeben und ich war zufällig da.

Wie lange, frage ich mich, hat diese Stelle an der Wand den Blicken verborgen dagelegen. Und was für merkwürdige Spuren trägt sie. Sie ist verbrannt worden, man hat auf sie eingeschlagen und ihre Oberfläche zerstört. So ist es dieser Stelle ergangen, bevor man sie wegschloß. Was hat diese Wand so zugerichtet? Sie ist voller Zeichen, die ich nicht so recht lesen kann, ohne in den semiotischen Büchern nachzuschlagen. Es sieht ziemlich gewalttätig aus.

Hier ist sie verbrannt und durchstoßen. Hier klebt rote Farbe an ihr wie helles Blut. Eine sonderbare Form zieht sich von oben nach unten wie ein Erdrutsch, und es wachsen da kleine Erhebungen hervor, die an Seepocken am Rumpf von Schiffen erinnern. Hier ist die Wand mit so etwas wie Teer oder Ruß verschmiert. Allenthalben ist ihr die Haut abgezogen und darunter ist wieder etwas: Gips? Diese unregelmäßigen Muster: Ist das der absolute Zufall?

Die Naturalisten nach Arno Holz hätten gesagt: Kunst=Natur + x. Wobei das x für die Zugabe des menschlichen Eingriffs steht. Ist das, was ich hier gefunden habe, naturalistische Kunst? Das x ist ja da. Die Hammerschläge, die vielen verschiedenen Kratzer und Pinselstriche. Wenn auch wohl eher willkürlich dazugekommen. Zweifellos das Ergebnis von Arbeit. Wenn man auch nicht gerade sagen würde: Die Frucht.

Und wer hätte das Werk zu verantworten? Ein Bauarbeiter, der wohl nicht wissen konnte, dass sein grober und anscheinend zufälliger und nicht auf eine Stelle hingelenkter Hackenschlag (vielleicht sogar, ohne dass er sah, was dadurch passierte), dass sein Ansetzten der Lötflamme, die die Wand verkohlte, etwas geschaffen haben, vor dem ich heute stehe und … irgendwie staunen muss?

Jetzt sind sie also wieder hervorgekommen, diese Stellen. Man müsste eine Analyse all der Substanzen machen, die ein solches “Bild” enthält. Wenn ich sowas malen könnte,  ich wäre innerhalb kurzer Zeit ein reicher Mann. Diese Landschaft der Krater und Narben kann sprechen. Vor allem zu mir spricht sie, weil ich mich als ihr alleiniger Entdecker fühle. Und ich fühle noch etwas, wenn ich so stehe und schaue. Fast würde ich sagen wollen: Man fühlt die Zeit.

Das Neue und das Alte liegen hier unmittelbar beisammen. Hier ist die gewachsene Oberfläche: Wie Moos. Wie Korallen, die einen Stahlträger überwuchern: Lange Zeitlichkeit. Archäologisch.

Und da ist der Schlag, der sie aufbricht, die Oberfläche: Momentan-Zeit, kürzlich erst geschehen. Wie ein Kratzer in altem Silber oder Blei. Wie ein alter, schwarzer Holzbalken, der bricht und sein frisch-gelbes Inneres zeigt.

Dieser langsame Rost überwuchert, wo er kann, die ganze Welt. Wo wir ihn nicht mit solchen vergleichsweise hastigen Bewegungen abstreifen und die Oberfläche rein und glatt und ebenmäßig bewahren. Warum? Damit kleinere Zeiträume für uns anschaulich werden. Die Zeit macht uns Angst, wenn sie so wuchert, wenn sie so lange für etwas braucht, wie wir gerade einmal zu leben haben. Wie überall, wo große Zeiträume anschaulich werden, denken wir reflexartig an unser eigenes Ende. Wir wünschten uns die Welt -zumindest wo sie uns berührt- so kurz, wie wir selbst sind. Unsere Ordnungsgewalt, denke ich. Unsere Gier nach klaren Formen und überschaubar aufgereihten Dingen ist dafür verantwortlich. Unsere Sucht, überall Ähnlichkeit mit uns selbst zu finden. Das Andere ist also das grundsätzliche Durcheinander, bei dem der Zufall die Form zu bestimmen scheint. Un-Ordnung. Chaos. Wir lehnen es ab. Es ist nichts Gutes für uns. Es bringt nur den absoluten Zufall.

Der Mensch kann aber nur leben, wenn er seine eigene Setzung für die Welt und ihre Phänomene geltend macht. Glauben wir, glaube ich. So denke ich, in Betrachtung der vom Zufall überwucherten Wand: Das sollte nicht meine Umgebung sein. Das ist mir fremd und feindlich. Das kann krank machen und ist unberechenbar und unbekannt. Wild wie ungezielte aber kräftige Hammerschläge.

Und doch: Die Griechen, die uns ja das Gedankliche vorweggenommen haben, kannten und respektierten bis zu einem gewissen Grade auch die Gegen-Vernunft. Das Triebhafte, das Rauschhafte in uns, das in der Lage ist, zu morden und gegen alle Regeln zu leben. Dafür steht die Gottheit Dionysos. Die Un-Vernunft, die Ratio des Chaos. Das Gegenteil der Vernunft. Das abgründige Gegenteil der Ordnung.

Das Eine wäre eine weiße oder homogen eingefärbte Wand mit klarer Oberfläche, und einer Struktur, die irgendwelchen Regeln entspricht. Das Andere, das ist das hier: Das Zeug, das wuchert und mit jedem Tag, der vergeht, sich nach fremdartigen Un-Regeln von einem in den anderen Zustand hinein verändert. Aber: Ist das nicht auch Evolution? Folgt dieser Vorgang somit nicht einem uralten Gesetz, das uns alle durchdringt?

Was ist Saba?

Tarkowski, der russische Filmemacher, hat das so genannt. In seinem Film Stalker gibt es eine Szene, wo ein Mann (ein Schriftsteller, um genau zu sein) auf den Raum der Wünsche zustolpert. Er hat gerade das Schlimmste durchgemacht in den gefährlichen Tunneln, die dorthin führen. In der sogenannten Zone: In seinem eigenen Inneren, natürlich. Er stolpert über diese verkrusteten Hügel und verletzt, Schritt um Schritt, die alte gewachsene Staub-Oberfläche. Schwarz ist die oberste Schicht. Weiß wie Mehl kommt darunter eine andere, ältere Schicht zum Vorschein. Der Schriftsteller dringt ein in das, was unberührt dalag. So sieht es immer aus, wenn das Kurzfristige und das Langfristige zusammenkommen. Kratzer bilden sich. Und Kontrastierend hebt sich das Eine vom Anderen ab. Spuren entstehen, so wie auf der Wand, vor der ich gerade stehe.

Was aber hat dieser mysteriöse Raum der Wünsche damit zu tun? Nichts vielleicht, aber dass so seine Handschrift aussehen würde, denke ich. Und das fasziniert, wenn man meint, ihn auch hier in München zugänglich machen zu können. Im Raum der Wünsche ist es verborgen, in unserem Innern. Das Alte, das Unsagbare, chaotisch Wachsende. Uns ist es insofern schon feindlich, als es unsere Lebenszeit wie Nichts in sich aufnehmen kann. Als es unser Bestes leicht ersticken kann unter Bergen von Zeit.

Aber wie gesagt: Es durchdringt uns ja doch. Und wir werden, früher oder später, uns stellen und Antwort geben müssen. Uns stellen müssen. Stellung beziehen. Wie gesagt.

Eine solche Kollision geht oft schlecht aus: Der Raum der Wünsche, das ist das Innere, Verborgene. Von einem Mann namens Stachelhaut, der in die Zone eindrang, um den Raum der Wünsche zu finden, wissen wir, dass er sich das Leben nahm, nachdem ihm sein Wunsch erfüllt wurde. Warum? Stachelhaut wollte den Raum finden, um seinen Bruder zu retten. Sein dringlichster Wunsch, so fühlte Stachelhaut, war es, ein guter Mensch zu sein. Und dieser Gedanke gab ihm die Kraft all die Hindernisse auf dem Weg zu überwinden: Das irrationale, unberechenbar strafende Wesen der Zone. Doch als er den Raum betreten und die Zone wieder verlassen hatte, da wurde ihm sein tatsächlicher Wunsch erfüllt: Er wurde reich. Stachelhaut konnte nicht leben mit dieser seiner Menschlichkeit. Hatte er doch geglaubt, gut sein zu können, oder wenigstens: Es zu wollen. So stand er jetzt allein vor der grausamen Erkenntnis seiner ureigensten Existenz.

So natürlich ist der Mensch. Und diese Natur mag er nicht. Er wäre so gern moralisch. Man redet ja nicht gern drüber. Sollte man auch nicht. An der Oberfläche zu sein, vereint alle Vorteile auf sich. Unsere gültige Moral ist gedacht. Sie durchdringt uns aber nicht: Wir sind nicht moralisch gemacht. Der Mensch: Das Tier mit Anstrich: Und in uns tun sich Abgründe auf.

So weit, so gut.

Aber: Mit dieser (mindestens) Zweiwertigkeit lässt sich leben. Man kann sie überbrücken. Man kann sie überspielen. Man baut einfach einen neuen Bäckerladen wieder dorthin, wo das chaotische Andere unserer Gegenexistenz sich zeigt. Man macht die Tür wieder zu. Man kann es nicht akzeptieren, man kann es allerdings im Zaum halten. Es gehört nämlich zum Leben dazu. Insofern, dass dieses seine eigene Verneinung nun einmal in sich trägt.

Ich mache noch ein letztes Foto und gehe nach draussen, wo schneidend kalter Wind mir in die Jacke fährt.

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