Panama auf Deutsch

Der Brite ist in Honduras angeblich mit der Pistole bedroht und um ein bisschen Kleingeld erleichtert worden. Auf einen Käfer in Honduras, sagt er, ist mit der Kalaschnikow geschossen worden. Ein Ladrón hat erst vor wenigen Tagen den Wachtposten eines Pfandleihers, direkt hier unten, neben dem Cafe Coca Cola, auf der Avenida Central, erschossen und ist danach seinerseits erschossen worden. Es ging um den Preis für eine billige Armbanduhr.

Nach über 20 Stunden Flug habe ich kaum einen Blick für die Wolkenkratzer der Großstadt Panama City, die während der nächtlichen Taxifahrt an mir vorbeiwandern. Ich habe schon beschlossen, die Stadt PTY (PiTiWhy) zu nennen, nach dem Fracht-Kürzel, das man in Miami an meinem Rucksack festgemacht hat. Auch der erste “Ausländer”, der bereits neben mir sitzt, -gemeinsam drücken wir die Taxikosten auf 08 USD pro Person- erfährt von mir nicht viel mehr, als dass ich “from germany” bin, danach verfalle ich in müdes Schweigen. Die Lichter, die in dieser schwarzen Wand aus gestauter Hitze orangegelb an mir vorüberziehen, gehören jetzt also zu Panama, zu Mittelamerika. Es sieht unangenehm aus hier oder vielmehr: Es fühlt sich unangenehm an. Mein erstes Spanisch noch am Flughafen: Ich möchte nach Casco Viejo,- “Cass-ko-Vie-cho” wird erst nicht verstanden. Dann: “Ah, Caco-Vieho”. Das ist das berühmte Altstadtviertel von PiTiWhy. It’s changing … it’s undergoing contruction, sagt der Reiseführer. Man wird mich hinbringen, die Fahrt ist garnicht kurz. Ich habe noch in Deutschland das erste Hostel für eine Nacht gebucht, danach nichts mehr. Was will ich eigentlich hier?

Im Hostel besorge ich trotz meiner tiefen Erschöpfung gleich noch drei Flaschen Bier, nachdem ich ein Bett im Dormitorio bezogen habe. Man mustert mich, es sind, scheint mir, lauter Franzosen. Bier will keiner, ich trinke es allein. Vielleicht rede ich etwas mit ihnen, ich weiß nicht mehr. Wenig später schlafe ich ein.

Am Morgen spricht mich ein freudlicher Schwarzer an, Cedric, Franzose, auf Spanisch. Er hat meine Kamera im Badezimmer gefunden und zu mir ins Bett gelegt, nachdem er anhand der bereits geschossenen Fotos mich als Eigentümer erkannt hat. Sehr freundlich, ein guter Beginn.

Draussen wartet Casco Viejo, Panama City, wovon ich kaum etwas weiß. Aber die Hitze, der Lärm, der Geruch, die Farben, all das beginnt, in meinem Kopf real zu werden. Und noch in München haben sie vor dem Start mein Flugzeug enteisen müssen. Kaum bin ich allein auf der Straße, auf der Avenida Central mit überschaubaren Läden (Handies, Handies, Handies), Cafés (Fleischeintopf, Kuchen, Kaffee für ingesamt 1,75 USD), Marktständen (Ananas, Papayas, Bananen, garnichts ungewöhnliches) und Barbieren (Capital Style-Bartschnitt für 1 USD), beginnt ein euphorischer Zustand: Ich bin jetzt hier, und ich bin allein. Ich bin wirklich hier, wo auch immer das ist; und die Euphorie steigert sich bis zu einem regelrechten Rausch.

Der erste Tag bringt eine Episode, die ich noch Wochen später immer und immer wieder erzählen werde, als launig-sympatische Anekdote: wie ich in Panama ankam. Sie geht in etwa so:

Vorgeschichte: Ich habe zuhause geplant, nicht viel, nicht konkret. Meine Entscheidung für Mittelamerika, eher zufällig. Ich plane Guatemala, vage, nicht viel mehr. Ich lese die Seiten des Auswärtigen Amtes: Gewalt, Kriminalität, Gewaltkriminalität, extrem niedrige Hemmschwelle zu exzessiver Gewalt. Ich will trotzdem fahren, markiere aber zum Spaß die Areas, die als besonders gefährlich gelten bei google earth mit roten Dreiecken als “Gefährlich”. Meine Eltern fragen nach der Bedeutung dieser Dreiecke und, um es kurz zu machen, Guatemala, Honduras, El Salvador u.a. kann ich meiner Mutter nicht antun, die sich zuhause sonst zuviele Sorgen machen würde. Panama ist sicher, heisst es, Costa Rica erst recht, Nicaragua ebenfalls,- also was solls, da war ich auch noch nicht. Dieses abstrakte Wort: “Sicher” bekommt für mich eine geradezu Disneyland-mäßige Bedeutung. Ich hatte sogar ein bisschen gehadert, war böse mit meinen Eltern, dass ich auf die Gewalt in Guatemala, Leichen auf den Straßen, verzichten soll und stattdessen in ein Mickey Maus-Land fahre.

So laufe ich denn auch auf den Straßen dieser prekären Großstadt, in der Zona Rosa, der Slum-Gegend von PiTiWhy, die direkt hinter dem Hostel Colon beginnt, ganz unbesorgt herum, trage meinen Reisepass und dreihundert Dollar im Bauchgurt, meine Kamera in der sowas von amerikanisch-deutschen Cargohose, ein paar Einkaufstüten mit Fisch und Papaya etc. und versuche zum Spaß, mein Hostel vom Supermarkt aus auf eigene Faust wiederzufinden. Wenn es nicht gleich gelingt, denke ich, so sehe ich erst recht etwas von der Gegend. Und so ist es auch, malerisch, verdreckt, eindrucksvoll, ich gehe vorbei an abgewrackten Hütten, Ruinen einst wunderschöner Kolonialstilhäuser, die jetzt teilweise aus- und abgebrannt sind. Ich bewundere die streunenden Hunde auf den Straßen, die offenen Kanaldeckel, wo sie Müll und Exkremente abladen, bewundere die von der Zeit gezeichneten Bretterbuden, die eindrucksvollen mestizischen Physiognomien der Leute, die hier offenbar leben und ich genieße die Hitze und den Dreck, den Verfall, den würzigen, schmutzigen Geruch, das grelle Gelb und Orange der Straßenbemalung, die verlotterten Palmgewächse, das verdorrte Gras, die Schmiererein an den Wänden, die verrosteten, verbeulten Autos, die grellbunten Busse, deren Auspuffe wie Maschinengewehrsalven klingen…

“Faust” steht an einer Wand. Gerne würde ich dieses merkwürdig deplazierte deutsche Wort fotografieren, aber ein leiser Instinkt oder auch einfach nur das übliche Unbehagen, als Knipserfotograf fremden Leuten gegenüber zu stehen, hält mich davon ab. Denn eine Ecke weiter sitzt eine Gruppe junger Burschen in weißen muscleshirts herum.

An einer anderen Stelle kommen zwei kleine schwarze Buben vorbei, als ich gerade die Kamera in der Hand halte: “Foto, Foto Senhor!” Eine alte Frau, die die Szene beobachtet, wie ich gehorsam eine gute Perspektive einnehme, erst den Einen, dann den Anderen fotografiere und ihnen dann das Display zeige, wedelt mit der Hand in meine Richtung. Dabei macht sie ein Geräusch ähnlich wie “Kusch kusch” oder “Wisch Wisch”. Ich verstehe nicht, was sein soll, bewege mich aber doch nach einer anderen Richtung. Ein abgerissener Kerl kommt in einer Nebenstraße zu mir, ob ich Geld für ihn hätte? Ich biete ihm erst Papaya, dann Zigaretten und schließlich gebe ich ihm eben doch das ganze Kleingeld in meiner Hosentasche, vielleicht 1 oder 2 Dollar. Kurz darauf spricht mich ein Senhor an, macht an der Hüfte eine Pistole mit der linken Hand und sagt: “Cuidado, Senhor, se roban!” “Nooo”, sage ich. “Aqui en Panamá!?” Ich folge aber doch seinem Rat, den schnellstmöglichen Weg zum Hostel zurück einzuschlagen. Jetzt aber sieht mich ein Polizist, der zufällig vorbeikommt, und stoppt mich mit Entschlossenheit. Sofort muss ich das nächste Taxi nehmen, das er für mich heranwinkt, und das mich zurück in die grüne Zone bei der Avenida Central bringt. Der Fahrer klärt mich erstmal auf über die Rote Zone, die Slums, die NoGo-Areas und wie tief drin ich war in einem Gebiet, das die Polizei kaum noch betritt. Wäre ich weiter gegangen, wäre ich wohl mit einiger Sicherheit ausgeraubt worden. Plötzlich klingt das alles sehr plausibel: Auch PiTiWhy kann also peligroso sein? Wunderbar.

Mein neues Hostel heisst “Hotel Colón”, Übernachtung für 10 USD in einem Einzelverschlag mit Ventilator. Von der Dachterrasse hat man einen wunderbaren Blick über die Slums, die auf der Landnase hin zur Kanalzone liegen. Am Horizont reiht sich Frachter an Frachter. Sie ziehen langsam in Richtung der Schleusen, wo sie die Durchfahrt durch den Kanal erwarten. Auf der oberen Terrasse steht man inmitten verbogener, rostroter Stahlträger, die vielleicht mal ein Dach gewesen sind. Nach unten blickt man in einen aufgrisssenen Schacht, in dem Schutt und etwas Müll liegen. Auf dem (Schwarz-) Markt kostet eine Stange “Miami”-Zigaretten 3 Dollar. Auf der Straße, wo der Verkäufer gelangweilt in einem Pornoheft blättert, legale 50 Cent die Schachtel. Wir lassen unseren Reisepass in einem Copyshop ablichten. Diese Kopie bei sich zu tragen, genügt, wenn man abends ausgeht.

Zwei große, einzelne Gebäude treten unter den umliegenden Niedrigbauten und der alten kolonialen, jetzt teils offenbar in der Rennovierung befindlichen, teils bewohnten, teils leerstehenden Bausubstanz hervor. Hier schießen sie aufeinander, vom einen ins andere Gebäude, so heisst es. Überhaupt kursieren während der kommenden Tage etliche Schauergeschichten aus der Gegend und aus anderen Ländern Mittel- und Südamerikas. Beim vorzüglichen Rum mit gelben Limetten und Cola und lokalem Bier findet sich eine international bunt gemischte Gesellschaft tags und nachts auf der Terasse zusammen und tauscht sich aus: Amerikaner, Israelis, Kanadier, Franzosen, Argentinier, Deutsche, Neuseeländer, Niederländer, Tschechen, Italiener, Briten. Man kommt unvermeidlich sofort ins Gespräch. Alle scheinen sie auf eine ähnliche Weise berauscht zu sein wie ich: Man ist in Mittelamerika, das allein macht es aus.

Man tauscht Räuberpistolen aus, was davon wahr ist, was vielleicht ausgeschmückt, was schlicht erfunden, man wird es nie erfahren. Da gibt es die Geschichte von der Frau aus Bogotá, die den Schweizer mit Whiskey betrunken macht, ihm Oralsex verspricht und ihn dann mit dem Messer attackiert. Dann die Geschichte von dem Italiener, der von einem nackten Mann überfallen wird, der, nichts als sein Gemächt in der Hand “give me all your money” sagt und sich dann mangels Überzeugungskraft wieder trollen muss.

Der Brite ist in Honduras angeblich mit der Pistole bedroht und um ein bisschen Kleingeld erleichtert worden. Auf einen Käfer in Honduras, sagt er, ist mit der Kalaschnikow geschossen worden. Ein Ladrón hat erst vor wenigen Tagen den Wachtposten eines Pfandleihers, direkt hier unten, neben dem Cafe Coca Cola, auf der Avenida Central, erschossen und ist danach seinerseits erschossen worden. Es ging um den Preis für eine billige Armbanduhr.

Andere Geschichten finden offenbar in unserer eigenen Hotellobby statt: Ein Schwede will ins Hotel einchecken, stellt seinen Rucksack neben sich, um zu bezahlen, da kommt ein dürrer Mann von draussen herein, nimmt den Rucksack und versucht, ihn wegzuschleppen. Der Schwede, eben erst in PiTiWhy angekommen, ist viel zu verdattert, um einzugreifen, aber die beiden Senhoras der Rezeption schlagen den Dieb mit Geschrei und wilden Flüchen und mit Besenschlägen in die Flucht. Die Polizei ruft man deswegen nicht. Der kleine blasse Engländer muss sich ein oder zwei mal von Einem losreissen, der ihn mit einem heuchlerisch kollegialen “Papi, damme un schigarro” am Arm packen will. Street-People, sagt man zu Ihnen, oder Crack-Heads.

Und dann wieder, was ich selbst erlebe: Wir sitzen beim Rum auf der Terasse in der heissen Tropennacht, es ist der dritte oder vierte Tag in Caco Vieho, man hat sich bereits eingelebt im Hotel, Bekanntschaften geschlossen… – da knallt es ziemlich laut, ganz in der Nähe, vier, fünf, oder sechs Mal. Wir sitzen zusammen, nehmen es locker, man meint zu wissen, dass richtige Schüsse (gunshots) lauter und gleichmäßiger klingen müssten. Wir nehmen noch einen Drink, da kracht es nochmals, unten auf der Straße, ziemlich genau vor unserer Tür. Wir gehen zu fünft eine Etage höher, um besser zu sehen: Die Polizisten unten, im gelben Schein der Straßenbeleuchtung, scheinen aufgeregt, gestikulieren, deuten, spähen in die Teiche der Dunkelheit in den Häuserschluchten. Debby, die junge Neuseeländerin, die wie eine Amerikanerin klingt, nimmt ihre Kamera und macht ein Foto – mit Blitz. Die Policías sehen uns da oben, deuten auf uns. “Okaaay, thats too scary now”, sagt Debby, “let’s go to bed”.

Ich denke garnicht dran. Ich bleibe allein zurück, kann mir nicht denken, was sein sollte, halte den Kopf unten, stecke mir eine an …

Ein paar Minuten später kommen sie herauf: Etwa 10 bewaffnete Policías, hinterdrein zwei Mitarbeiter des Hotels. Ich werde durchsucht, man beleuchtet mich, man durchsucht die Blumentöpfe. Der Mitarbeiter des Hotels, ein lustiger, dicklicher Muchacho erklärt mir in plain english, worum es geht: Es hat Einer geschossen, direkt vor der Tür. Die Kugeln seien funkenstiebdend von einer Wand abgeprallt, das habe er gesehen. Ich sage: Ja, das haben wir gehört, gestern auch schon, aber von da drüben… “Da drüben” ist der Slum, sagt er, da schiessen sie dauernd, das ineressiert Keinen. Aber hier ist ja die Grüne Zone, die auf der Avenida Centrál beginnt. Hier erregt das etwas Aufsehen. Die Polizisten ziehen ab und ich bleibe zurück mit Pedro und Guzmán vom Hotel. Ich lade sie ein, wir setzen uns und wir trinken einen und erzählen die ganze Nacht. Ein paar junge Argentinier sind gerade eingetroffen. Ich kann ihnen schon eine gewisse Einweisung in die herrschenden Verhältnisse in Caco Vieho geben.

Ich meide die Deutschen. In der Beziehung bin ich geradezu streberhaft bemüht, nicht in eine von diesen spontanen Reisegruppen zu geraten, wo man dann froh ist, sich immer auf deutsch unterhalten zu können;- sozusagen als ein kleiner letzter Rückhalt in der Fremde. Viele stehen auf sowas oder brauchen sowas. Ich nicht. Ich bin allein unterwegs in einem Land und in zwei Sprachen, im Spanischen oder im Englischen.

Anne und Mark, dem deutschen Pärchen kann ich mich in PiTiWhy aber trotzdem nicht so recht entziehen. Ich habe mir natürlich vorher nicht überlegt, auf welche Weise ich mir konkret die Deutschen vom Leib halten könnte. Dass mein Englisch bald gut genug sein wird, Amerikanern wie Deutschen zu erzählen, ich sei, sagen wir mal, in Indien aufgewachsen und spräche kein Deutsch, weiß ich jetzt noch nicht. Die beiden sind nett und eigentlich bin ich es ja gewesen, der Anne im Hoteltreppenhaus anspricht, weil sie ein blondes Mädchen ist. In der Folge gerate ich fast, durch die ganze kaum vermeidliche Verbrüderung dieser Tage, in einen Jeep an die Küste mit ihnen zusammen, um die Kuna-Indios zu sehen.

Mark ist Koch in Deutschland, nun aber schon zwei Monate hier unterwegs. Anne ist arbeitslos in Deutschland und darf eigentlich nicht weg. Das größere Problem aber ist, dass Mark und Anne zwar ein Paar sind, sich aber, recht bedacht, erst seit etwas mehr als zwei Monaten kennen. Davon war Mark schon die meiste Zeit weg auf Reisen. Jetzt sind sie hier in Panama und man hat den leisen Verdacht, dass sie nicht mehr lange harmonieren werden. Anne kann kaum Englisch und hält sich sofort an mich als den Deutschen ihres Vetrauens. Sie ist schon über dreissig und will eigentlich Kinder. Notfalls eben mit Mark und jetzt reist der in der Gegend herum. Ich leihe ihr kameradschaftlich mein Ohr und sage ihr mit der Deutlichkeit, die das englische Denken dem deutschen Sprechen verleiht, dass es ein Problem sein dürfte, wenn sie nach Panama kommt, um Mark hier die Hölle heiß zu machen. Sie soll den Trip zu genießen versuchen.

Ich schiebe noch in der Nacht einen Zettel unter ihrer Tür durch, zusammen mit dem Geld, dass ich ihnen schulde: Macht’s gut, ich komme nicht mit. Vielleicht sieht man sich in Nicaragua…