Lies’ die Geschichte auf deinem E-reader: Arizona
Es war eine mondhelle Nacht. Mitten in der Wüste, wo die Joshua-Palmen wie ein Wald standen, wo keine Straße hinführte und wo die Felsen langsam durch roten Staub wanderten. Keiner wusste, was die Felsen antrieb, aber man konnte ihre Spuren am Boden sehen. Die Sterne leuchteten wie schillernde Diamanten hinter langsam vorbeiziehenden Wolkenschleiern. Da waren die morschen, roten Steinriesen, verwittert, bereit zu Staub zu werden und schimmerten blässlich grau und violett im Mond- und Sternenlicht. Die Joshuabäume warfen einen Wirrwar gezackter Schatten hierhin und dorthin über den feinen roten Sand.
Ein kleiner schwarzer Skorpion wanderte vorbei an der Stelle, wo der Boden aus hartem Fels war und ein Riss sich durchzog von der Oberfläche bis hinunter in uralte Gesteinsschichten. Der Riss führte kilometerweit in die Tiefe. Bis dahin, wo wieder Wasser stand und noch weiter hinab, wo sich alles Licht der Sterne und des Tages verlor, wo lichtlose Pflanzen wuchsen, die keine Farbe hatten und die keine Formen kannten, außer der Form des Zufalls. Hier war ein dichter Wald aus blassen Algen, schwarzen Schlingengewächsen und falben, schleimartig den Fels überwuchernden Moosen. Hier war kein Licht und kein Laut. Was hinunter stürzte durch den Spalt kehrte niemals wieder hinauf.
Zu diesem Spalt kam heute Nacht der Stamm der Akimel O’Odham, die sich nach den stacheligen Bäumen nannten. Sie waren Bewohner der Wüste, konnten aus den Pflanzen Wein und Heilmittel machen und aus den Tieren, die sie fingen, wunderbar schmeckende Speisen bereiten. Wer davon kostete, vergaß es nie mehr, denn er kostete die Wüste selbst. Ihr Mark und ihre ewige Seele. Und er fühlte sich klein. Wüstenspeisen machten den Menschen stumm und nachdenklich und das war auch die Eigenschaft der Menschen vom Stamme der Akimel O’Odham. Sie sprachen kaum miteinander wenn es nicht sein musste. Sie lehrten ihre Kinder durch Zeigen und durch Schriftzeichen, die sie in den feinen roten Staub malten. Kein weißer Mann kannte diese Zeichen. Die Akimel O’Odham verwischten sie, sobald sie gelesen worden waren und sie malten sie niemals auf Fels und kratzten sie niemals in Holz oder in Knochen.
Es mochte 100 Jahre her sein an diesem heutigen Tag, als der Skorpion wanderte. Da war ein weißer Mann zu den Akimel O’Odham gekommen. Er kam mit einer Gruppe von Helfern und vielen Pferden, die Forschungsgeräte trugen. Sie zogen über die unermessliche Ebene und sie alle waren halb verdurstet. Die Akimel O’Odham gaben ihnen Wasser und Essen und zeigten ihnen einen Lagerplatz im Schutze einiger Felsen. Der weiße Mann hieß Herfurth und war Naturforscher. Er war durch Zufall auf die Akimel O’Odham gestoßen und zeigte sich begeistert und beglückt darüber. Die Akimel O’Odham begegneten ihm reserviert aber freundlich. Er wollte eine Weile bleiben und über die Akimel O’Odham lernen. Er holte die Geräte von seinen Pferden und fing an, die Gegend zu erkunden. Er begann auch, die Akimel O’Odham zu vermessen und mit ihnen zu sprechen. Er sprach viel mit Atha, einem Akimel O’Odham-Mädchen, das die Zeichen des Stammes gut malen konnte. Eines Tages begab es sich, dass Atha für Herfurth einige der Zeichen in den Staub malte. Herfurth wurde daraufhin ganz erregt und zückte sein Notizbuch und drängte Atha, ihm alle Zeichen, die sie kannte, in den Staub zu malen. Sodass er sie abschreiben konnte.
So lernte Herfurth über Monate hinweg bei den Akimel O’Odham. Er aß das Essen, das sie für ihn machten und trank den besonderen Wein, den sie aus Wurzeln und Agaven herstellten und er lernte selbst die meisten Rezepte, die er in sein Buch schrieb. Er sprach mit den Alten und hörte von den Ereignissen, an die sie sich erinnern konnten. Er hörte auch, was vor langer Zeit geschehen war, und woran sich keiner, der noch lebte, erinnern konnte. Und er schrieb alles in sein Buch. Er sprach mit Olo, dem Häuptling und lernte von den Zaubern, die eine Jagd erfolgreich machen und die Schutz vor Gefahr und Krankheit bieten. Und er lernte die Sprache der Akimel O’Odham, die diese für ihn in den Sand schrieben. Und alles, was sie ihm sagten, konnte er schließlich in ihrer eigenen Sprache aufschreiben, in sein Buch, das inzwischen drei schwere, gut verschlossene Bände umfasste.
Doch es kam der Tag, da Herfurth den Akimel O’Odham von seinen Plänen erzählte, bald aufzubrechen und die Reise zurück durch die Wüste anzutreten. Da erlebte er, wie sich die gleichmütigen Mienen der Leute verfinsterten. Herfurth machte viele gute Worte, um sie zu beschwichtigen. Er erklärte, dass es ihm nur darum ginge, zu verstehen. Und dass er nur dazu das Wissen, dass er bei ihnen gesammelt hatte, nutzen werde. Und dass er nur solche Menschen daran teilhaben lassen würde, die von einer ebensolchen Ehrhaftigkeit waren, wie er selbst. Schließlich, als Herfurth sich in einer immer feindseliger werdenden Umgebung sah, bot er an, die drei Bücher bei den Akimel O’Odham zu lassen und sein Wissen für sich zu behalten. Zuletzt erklärte er sogar, für immer bei den Akimel O’Odham bleiben zu wollen.
Eines Nachts lag Herfurth in seinem Zelt und sorgte sich um den Ausgang seiner Expedition. Er war bekümmert, da die Akimel O’Odham ihm mit keinem Wort ihre Absichten mitgeteilt hatten. Plötzlich sprangen sie von den Felsen ringsherum. Krieger, Frauen, Kinder und selbst die Alten. Sie hatten stachelige Äste der Joshuabäume und schwangen sie wie Peitschen. Und sie erschlugen binnen weniger Minuten die meisten von Herfurths Begleitern. Diejenigen Weißen, welche Hals über Kopf in die Wüste liefen, verfolgte man nicht. Sie fanden bald einen jämmerlichen Tod unter der sengenden Sonne.
Herfurth aber rissen viele Hände aus seinem Zelt. Sie banden ihn und trugen ihn weg. Weithin durch die Wüste schleppten sie ihn an der Spitze eines stillen Zuges. Bis zu der Stelle, wo der Boden aus hartem Fels war und die Landschaft im Sternenlicht funkelte. Herfurth, der zuerst gerufen und gefleht hatte, war still geworden. Es ging ihm alles durch den Sinn, was man Schreckliches mit ihm vorhaben könnte. Und doch war ihm bis jetzt kein Leid zugefügt worden. Nun aber nahm man ihm die Fesseln ab. Seit Tagen hatten die Akimel O’Odham kein Wort mit Herfurth gesprochen. Wortlos packten sie den Unglücklichen mit vielen Händen und warfen ihn durch den Riss im Felsen hinunter in den Schlund der Erde.
Hundert Jahre vergingen und die Wüste lebte fort in ihrem gleichmäßigen Rhythmus und hörte nur das Geräusch des leise dahin fließenden Staubes. Herfurth fiel in die Tiefe und stürzte in das schwarze Wasser, das am Grunde lag. In der Dunkelheit des Erdschoßes fand er sich wieder. Umschlungen von der Nacht überkam ihn große Verzweiflung. Er legte sich nieder und betete um seinen Tod. Doch statt des Todes kam zu ihm etwas anderes. Nach einer unbestimmten Dauer von Zeit, die er allein in der Stille verbrachte, keimte ein bitterer Wille in Herfurth. Er würde alleine Mensch sein müssen unter dem lichtlosen Gewürm. Er würde die beinahe verloschene Wärme seines Herzens bewahren müssen an einem Ort, der keine Gesichter kannte.
So aß er augenlose Fische und Molche und Würmer und bitteren Tang. Und wartete auf das Ende seiner Lebenszeit. Und nachdem er anfangs noch nach oben gerufen hatte, sobald er Kraft entbehren konnte, und auf Antwort gewartet, so rief er irgendwann nicht mehr. Und schließlich vergaß er auch das Warten.
Doch als der Tag kam, an dem er still und allein im Dunkeln hätte sterben sollen, siehe da, er tat es nicht. Er blieb am Leben. So war es mit dem Naturforscher geworden. Mit bleichen Winden im Haar lebte er dort unten. Von ewiger Nässe triefend wurde seine Haut glatt wie Seide und weiß wie Schnee. Seine Augen wurden groß wie die eines Karpfens, gewöhnten sich an das lichtlose Schauen. Viele, viele Jahre war Herfurth gekrochen und geschwommen. Chak Mool, der Wasserdämon, machte Jagd auf ihn. Doch erwischt hat er ihn niemals.
So schwand ein Zeitalter und es kam der Tag, an dem Verlorenes wiedererstehen musste. Da gingen die Akimel O’Odham des Nachts wieder zu dem Spalt und zogen Herfurth heraus aus dem tiefen Dunkel an einem kilometerlangen Agavenstrick. Und als Bezwinger des Chak Mool wurde er ihr Gott. Sie zogen ihn herauf als Dionysos der Tiefe, sein Kranz nicht aus Weinlaub, sondern aus schwarzem Tang und bleichen Trieben im Haar. Sie legten ihn in den Wüstensand wie ein nasses, neugeborenes Leben und rieben ihn ab mit dem roten Staub der Wüste. Dann trugen sie ihn auf ihren Armen fort, wie damals, als sie ihn hergebracht hatten. Zurück zu dem Lagerplatz, wo die Akimel O’Odham in niedrigen Hütten wohnten. Doch sie waren nicht still während dieses Zuges, wie damals. Sie sangen und riefen und tanzten unterwegs und wiegten Herfurth und trugen ihn auf ihren Händen, sodass er die Sterne des Nachthimmels zählen konnte. Und im Lager setzte man den Schwachen, der kaum gehen konnte, in einen Sitz aus weicher Leguanhaut. Darunter Sand, der noch von der Sonne des Tages warm war. Jetzt entzündeten die Akimel O’Odham große Freudenfeuer aus trockenem Stachelholz. Und bald tanzten sie alle rings herum durch die stiebenden Funken.
An Herfurth heran aber trat Atha mit einem schweren Bündel auf ihren runzelig gewordenen Armen. Sie legte es dem Forscher in den Schoß und siehe: Es waren die vielen Seiten der drei Bücher, die er einst vollgeschrieben, vor langer Zeit. Und klar und schwarz standen auf dem vergilbten Papier die magischen Zeichen der Akimel O’Odham, die hundert Jahre überdauert hatten. Herfurth nahm nun Seite um Seite in die Hand. Er strich mit einem Finger wie erinnernd über einige Stellen, glättete hier und dort eine Falte. Um dann das Blatt sachte in die Flammen des Feuers gleiten zu lassen. Ebu, der Sohn des verstorbenen Häuptlings Olo, der dessen Platz als Stammesführer innehatte, trat heran. Er bot Herfurth die Hand und zog ihn aus dem Sitz. Gemeinsam schoben die den Stapel der brüchigen Seiten in die Glut, wovon indes keiner der tanzenden Akimel O’Odham Notiz nahm. „Nun kannst du gehen, wenn du willst,” sagte Ebu, „denn du hast im Schoß der Wüste gelegen und bist Chak Mool entgegengetreten. Du sprichst nun die Sprache unseres Stammes.”
Und Herfurth, dessen blasse Haut vom roten Staub der Wüste bedeckt war, und in dessen Haar die Akimel O’Odham leuchtend violette Wüstenblumen gesteckt hatten, blickte Ebu lange an. Unter seinen großen, feuchten Augenkuppeln standen still und ruhig die Pupillen, gewöhnt an Schwärze, entzückt von jedem Blick. Und die Sterne des Nachthimmels spiegelten sich in ihnen. Da ergriff er Ebu bei der Hand und sie tanzten beide durch den Funkenregen der leuchtenden Feuer der Akimel O’Odham.